Ein neugieriger Aspekt in der Entwicklung der Theorie der Internationalen Beziehungen in den letzten fünfzehn Jahren ist das langsame, aber unverkennbare Verschwinden der Frankfurter Schule als eine Schlüsselreferenz und Quelle der theoretischen Identifikation im weiten Feld der kritischen IR-Forschung. In den oft als Ursprungsjahre kritischer Ansätze zu IR angesehenen 1980er- und 1990er-Jahren griffen Gelehrte wie Richard Ashley, Mark Hoffman, Mark Neufeld, Steve Smith und Andrew Linklater, der leider in diesem Jahr verstorben ist, auf die Tradition der Frankfurter Schule zurück, um die positivistischen Annahmen, die das Fach leiteten, in Frage zu stellen und ein kritisches theoretisches Projekt zu entwickeln, das von einem emanzipatorischen Interesse geleitet werden sollte. In diesen Jahren entstand eine distinkte von der Frankfurter Schule inspirierte kritische IR-Theorie als ein ‘post-positivistisches’ Projekt, das neben Konstruktivismus und Poststrukturalismus existierte, sich jedoch durch sein explizites Engagement für Emanzipation und das Aufklärungsprojekt von ihnen unterschied. Gleichzeitig entwickelte die so genannte Aberystwyth-Schule, die mit Ken Booth und Richard Wyn Jones in Verbindung gebracht wird, eine analoge Position im entstehenden Feld der Kritischen Sicherheitsstudien.
Die Art von Gelehrsamkeit, die die Kritische IR-Theorie hervorbrachte, folgte einigen der allgemeineren disziplinären Trends dieser Zeit: hauptsächlich metatheoretisch in ihrem Charakter, konzentrierte sie sich auf die Kritik am Objektivismus und der Wertneutralität der ‘mainstream’ IR und auf die Definition einer epistemologischen Position, die von reflexiveren und bewusst normativen Prinzipien geleitet würde; insgesamt insulär und konfessionell in ihrem Ansatz, versuchte sie, die internen Parameter und konzeptionellen Grenzen für ein theoretisches Projekt zu definieren, das in sich geschlossen und deutlich von anderen Strängen des kritischen Denkens abgegrenzt sein sollte, insbesondere vom Poststrukturalismus; normativ und interpretativ in der Praxis sah sie ihren Hauptbeitrag darin, die versteckten moralischen Ressourcen in den internationalen Beziehungen freizulegen, die auf die Erreichung höherer Ebenen des kosmopolitischen Bewusstseins und die Transzendenz des Nationalstaats hinwiesen. Auf diese Weise beschäftigte sich die Kritische IR-Theorie mit einer eklektischen Lesart der Frankfurter Schule, die manchmal aus der frühen Frankfurter Schule (insbesondere bei der Definition eines kritischen theoretischen Projekts, das sich gegen die ‘traditionelle’ Theorie richtet), oft aus Habermas’ Gedanken der zweiten Generation, zum Beispiel durch die Zuschreibung einer zentralen Rolle an das emanzipatorische Versprechen der Kommunikation und das Vertrauen auf Fortschritts-Teleologien, schöpfte. Diese Form der von der Frankfurter Schule inspirierten Kritischen Theorie, die sich bis Anfang der 2000er Jahre als relativ kohärenter und allgemein anerkannter Ansatz in der IR etabliert hatte, ist heute weitgehend verschwunden. Was ist mit ihr geschehen? Sollte sie betrauert oder gar wiederbelebt werden?
Ich behaupte, dass drei unterschiedliche Dynamiken zusammenwirkten, um den allgemeinen Niedergang der Kritischen IR-Theorie zu bestimmen und die Erschöpfung ihres Beitrags zur Kritik der internationalen Politik zu markieren. Die erste ist mit der sich verändernden disziplinären Stimmung in der IR und dem Ende der intensiven metatheoretischen Debatte verbunden, die die 1980er- und 1990er-Jahre prägte. Mit dem Einsetzen einer Periode des ‘theoretischen Friedens’ und des Nebeneinanders verschiedener Forschungsparadigmen (Dunne et al., 2013) kam auch eine klare Gegenreaktion gegen die Art von höheren, metatheoretischen Interventionen auf, die einen Großteil der Gelehrsamkeit der Kritischen IR-Theorie in jener Zeit bildeten. Der wohlwollendere Blick auf diese Wende, jüngst von Beate Jahn geäußert, besagt, dass die Kritische Theorie (im weiten Sinne) ein Opfer ihres eigenen Erfolgs war und dass sie die epistemologischen und metatheoretischen Grenzen der Disziplin weitgehend erweitert hat; der härtere, von Nicholas Michelsen geäußerte Standpunkt ist, dass das Bild der Kritischen IR als insurgente Herausforderung des IR ‘Mainstreams’ schnell zu einem selbstgerechten Wahn wurde – und dabei sehr wenig Wertvolles zum substantiellen Verständnis der internationalen Politik beitrug. Dies hängt auch mit einer weit verbreiteten Verärgerung über die zunehmende Ubiquität – und damit Vagheit – des Begriffs ‘Kritikalität’ selbst zusammen. Wie dem auch sei, bis in die 2010er Jahre hinein gab es ein nachlassendes Interesse an programmatischen und metatheoretischen Beiträgen des Typs, wie sie von Frankfurt School IR-Theoretikern spezialisiert wurden.
Die zweite Dynamik bezieht sich auf ein breiteres Dilemma des Denkens der Frankfurter Schule, das über die Disziplin der IR hinausreicht. Es bezieht sich auf das Auftreten eines Gefühls der Entfremdung zwischen den neuen Dringlichkeiten der globalen Konjunktur nach 2008 und dem Fokus des noch vorherrschenden Rahmens der Frankfurter Schulforschung – dem Habermasianischen, kommunikativ-demokratischen Paradigma. Wie ich bereits zuvor argumentiert habe (Schmid, 2018) und in meinem jüngsten Buch ‘The Poverty of Critical Theory in International Relations’ untersucht habe, wurde sowohl innerhalb als auch außerhalb des IR immer deutlicher, dass der Habermasianische Kritikrahmen – mit seiner Betonung auf der kosmopolitischen Evolution und der Abseitsstellung der Kritik an politischer Ökonomie – zunehmend ungeeignet war, um die vielschichtigen kapitalistischen Krisen und die zunehmenden sozialen Konflikte zu untersuchen und glaubwürdige Antworten auf die globalen Verwerfungen nach 2008 zu geben und sich seitdem nur intensiviert haben. Dies deutet auf das Auftreten einer verallgemeinerten ‘Krise der Kritik’ der vorherrschenden Form der Frankfurter Schule-Theorie hin, die außerhalb des IR umfangreich von Denkern wie Nancy Fraser (2018), Albena Azmanova (2014) und Amy Allen (2016) untersucht wurde.
Die dritte Dynamik ist mit dem verbunden, was Philip R. Conway (2021: 26) als ‘vielleicht herausragendes Phänomen der letzten 20 Jahre im Hinblick auf die kritische IR’ identifizierte, nämlich ‘die verspätete professionelle Etablierung postkolonialer, dekolonialer und rassenkritischer Forschung’. Die Auswirkungen auf die Kritische IR-Theorie bestanden darin, sowohl die langjährigen Blindstellen und den Eurozentrismus der Frankfurter Schule-Tradition als Ganzes – das, was Edward Said (1993: 336) berühmt als ihr ‘atemberaubendes[…] Schweigen über rassistische Theorien, antiimperialistischen Widerstand und oppositionelle Praxis im Imperium’ bezeichnete – als auch die spezifischen Versäumnisse der Kritischen IR-Theorie selbst (siehe Hobson & Sajed, 2017) zu beleuchten. Darüber hinaus bot sie einen vielversprechenderen Weg vorwärts für kritische Forschung in der IR, der sowohl eine kritische Auseinandersetzung mit den stillen Bereichen der Disziplin als auch eine Fülle von substantieller Analyse der Erbschaften und zeitgenössischen Artikulationen kolonialer und rassischer Macht in der globalen Politik umfasst.
Es ist die Schwierigkeit, auf diese drei Entwicklungen zu reagieren, die meiner Meinung nach hinter dem langsamen Niedergang der Frankfurter Schule der Kritischen IR-Theorie liegt. Das bedeutet nicht, dass das Leben in der Kritischen IR-Theorie erloschen ist und dass es keine Versuche gibt, sie zu erneuern. Es gibt sicherlich ein neues Interesse, sowohl in der Kritischen IR als auch darüber hinaus, an frühen Denkern der Frankfurter Schule wie Theodor Adorno, Max Horkheimer und Walter Benjamin und ihrer Auseinandersetzung mit dem Leben unter dem späten Kapitalismus. Es gibt auch vielversprechende Auseinandersetzungen mit der Frage, wie man die ‘Dekolonisierung der Kritischen Theorie’ angehen, ihren Eurozentrismus angehen und ihr langjähriges Vergessen im Hinblick auf Fragen des Kolonialismus und der Rasse rückgängig machen kann. Dies sind ermutigende Anzeichen, aber was ich für widerstandsfähiger halte, ist die Versuchung, die Frankfurter Schule der Kritischen IR-Theorie als eigenständiges und abgegrenztes intellektuelles Projekt wiederzubeleben, das sich vom Rest des Feldes abgrenzt. Es ist erforderlich, in dieser Hinsicht die richtigen Lehren aus dem Niedergang der Kritischen IR-Theorie der 1990er Jahre zu ziehen und eine Auffassung der kritischen IR-Forschung als aus separaten und konkurrierenden Silos bestehend abzulehnen. Vielversprechender, so glaube ich, ist das Bild eines kooperativen Feldes, das sich damit befasst, die bestehenden Bedingungen zu kritisieren, indem es aus einer Vielzahl verschiedener kritischer theoretischer Ressourcen schöpft und verbindet.
Ein offener und anti-identitärer Ansatz dieser Art verspricht viel mehr. Zum einen trägt die Abkehr von der Bindung an bestimmte theoretische Stränge dazu bei, die kanonische und eurozentrische Erzählung über die Ursprünge der Kritischen IR in Frage zu stellen und somit eine reichhaltigere Geschichte und lange ignorierte Stimmen aufzudecken, wie es Henderson (2014), Hutchings & Owens (2021) und Conway getan haben. Darüber hinaus ist es unerlässlich, wenn die Kritische Theorie jemals über ein rein kosmetisches Bestreben hinausgehen soll, ihre theoretischen und normativen Annahmen zu ‘dekolonisieren’ – was Ciccariello-Maher (2016, S. 133) eine ‘Dekolonisierung von innen’ nennt – und sich ernsthaft mit der kolonialen Konstitution der Moderne und Fragen materieller Entschädigungen und epistemologischer Gerechtigkeit auseinandersetzen möchte (Bhambra, 2021).
Letztlich gibt es daher keinen Grund, Energie und Mühe in die Neukonstituierung der Frankfurter Schule der Kritischen IR-Theorie als eigenständiger Gelehrsamkeit zu investieren. Die Beiträge, die die Tradition zu gegenwärtigen kritischen Bemühungen leisten kann – sei es in den Reflexionen über die verallgemeinerte Art der Herrschaft unter dem Kapitalismus oder über die Negativität der Kritik – lassen sich besser als Ideen und Inspirationen realisieren, die aus einer offeneren und kooperativeren kritischen theoretischen Bemühung herangezogen, hinterfragt und kritisiert werden können.
Referenzen
Allen A (2016) The end of progress: decolonizing the normative foundations of critical theory. Columbia University Press
Azmanova A (2014) Crisis? Capitalism is Doing Very Well. How is Critical Theory?. Constellations 21(3), 351-365
Bhambra G (2021) Decolonizing Critical Theory?: Epistemological Justice, Progress, Reparations. Critical Times 4(1), 73-89
Ciccariello-Maher G (2016) Decolonising Theory from Within or Without? A Reply to Baum. Constellations 23(1), 133–137.
Conway PR (2021) Critical international politics at an impasse: reflexivist, reformist, reactionary, and restitutive post-critique. International Politics Review 9, 213-38.
Dunne T, Hansen L & Wight C (2013) The end of International Relations theory?. European Journal of International Relations 19(3), 405–425.
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Henderson EA (2017) The Revolution Will Not Be Theorised: Du Bois, Locke, and the Howard School’s Challenge to White Supremacist IR Theory. Millennium 45(3), 492–510
Hobson JM & Sajed A (2017) Navigating Beyond the Eurofetishist Frontier of Critical IR Theory: Exploring the Complex Landscapes of Non-Western Agency, International Studies Review 19(4), 547–572
Hutchings K & Owens P (2021) Women Thinkers and the Canon of International Thought: Recovery, Rejection, and Reconstitution. American Political Science Review 115(2), 347-359
Jahn, B. (2021).Critical theory in crisis? a reconsideration. European Journal of International Relations 27(4), 1274–1299
Said E (1993) Culture and Imperialism. Chatto & Windus.
Schmid D (2018) The poverty of Critical Theory in International Relations: Habermas, Linklater and the failings of cosmopolitan critique. European Journal of International Relations 24(1), 198–220
Schmid D (2023) The Poverty of Critical Theory in International Relations. Palgrave Macmillan. weiterführende Literatur zu E-International Relations
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